Christian SCHUBERT

Correspondant économique de la Frankfurter Allgemeine Zeitung à Paris.

Partage

Viele Zentren, schrumpfende Bevölkerung

Raumentwicklung in Deutschland:

Anfang dieses Jahres erreichte die Deutschen eine für sie überraschende Nachricht: Die Abwanderung der Bevölkerung aus Ostdeutschland sei weitgehend gestoppt, meldete das Institut der Wirtschaft. Die Deutschen hatten sich seit der Wiedervereinigung fast schon an das Phänomen der Ost-Westwanderung gewöhnt. Seitdem die Mauer gefallen war, verging kein Jahr, in dem nicht eine bedeutende Gruppe von Migranten aus den neuen Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern nach Westdeutschland übergesiedelt war. Doch die jüngsten Zahlen des statistischen Bundesamtes zeigen, dass dieser Bevölkerungsstrom fast versiegt ist. Im Jahr 2014, dem zuletzt gemessenen Jahr, wanderten aus den neuen Bundesländern im Saldo nur noch 3300 Menschen von Ost nach West (jeweils ohne Berlin). Das ist mit Abstand der geringste Wert seit der Wiedervereinigung.

Der wichtigste Grund ist die Erholung in ostdeutschen Wirtschaftszentren wie Leipzig, Dresden, Erfurt, Potsdam, Halle oder Greifswald. Viele ländliche Regionen Ostdeutschlands hinken wirtschaftlich zwar weiterhin hinterher und haben mit dem Wegzug der jungen, arbeitsfähigen Menschen zu kämpfen, doch immerhin gibt es heute einige ostdeutsche Kraftzenten, die den Trend insgesamt stoppen.

Deutschland muss drei große Herausforderungen bewältigen: Die Integration großer Flüchtlingszahlen, der Schwund der einheimischen Bevölkerung und der interne Ausgleich der Wanderungsbewegungen zwischen Ost-Westdeutschland, aber auch Nord- und Süddeutschland sowie zwischen Stadt und Land. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft stehen damit vor immensen Aufgaben. Doch Deutschland kann zumindest einen Trumpf ausspielen: Seine föderale Struktur. Sowohl politisch als auch wirtschaftlich ist sein multi-zentraler Aufbau ein Pluspunkt für die räumliche Entwicklung.

Die 16 Bundesländer Deutschlands sind das Symbol dieser Dezentralität. Sie haben in politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Fragen erhebliches Gewicht. Auch wenn ihre Gestalt nach dem zweiten Weltkrieg von den Besatzungsmächten und später im Osten von der Wiedervereinigung geprägt wurde, erinnern die Länder heute noch an die Zeit des 19. Jahrhunderts, als Deutschland keine Nation, sondern ein Staatenbund war. Hier wurzelt die urbane Reichhaltigkeit Deutschlands, aufgrund der das Land heute über 11 sogenannte Metropolregionen mit mindestens 2 Millionen Einwohnern verfügt sowie über 14 (darin meist enthaltene) Großstädte von mehr als 500.000 Einwohnern. „Wir sehen in jüngerer Zeit eine Entwicklung, in der die größeren Städte gegenüber dem Land zu Gewinnern werden. Probleme haben jene Gegenden, die weit weg von den Zentren liegen. Doch Deutschland hat den Vorteil einer dezentralen Raumstruktur mit vergleichsweise vielen Zentren“, erläutert, Markus Eltges, Leiter der Abteilung Raumordnung und Städtebau am Bundesinstitut für Bau—, Stadt— und Raumforschung (BBSR).

Die dezentrale politische Verantwortung hat günstige Anreizstrukturen zur Folge: Die Volksvertreter treffen die maßgeblichen Entscheidungen in der Regel „näher am Bürger“. Sie haben ein Interesse daran, dass es „ihren Einwohnern“ gut geht. Das Prinzip der Subsidiarität, nach dem Herausforderungen am besten auf der nächst gelegenen Politik- und Verwaltungsebene gelöst werden, hat in Deutschland hohen Stellenwert. Nicht selten beschweren sich die Bürger schon, wenn dringende Fragen in Berlin statt in ihrer Landeshauptstadt entschieden werden. Darüber hinaus üben die Länder auch auf Bundesebene Einfluss aus — nämlich über den Bundesrat, die zweite deutsche Parlamentskammer neben dem Bundestag. Ihre wirtschaftliche Kraft erfahren die Länder dabei unter anderem über eigene Steuereinnahmen wie die Erbschaftssteuer und die Grunderwerbssteuer sowie einen Anteil an der Umsatzsteuer. Die Kommunen können ihre Einnahmen über die Gewerbesteuer regulieren.

Daraus ergibt sich jedoch nicht zwangsläufig ein System, in dem jeder auf sich alleine gestellt ist und gegen den anderen kämpft. „Laut Verfassungsauftrag ist die Regierung gehalten, für gleichwertige Lebensverhältnisse im ganzen Bundesgebiet zu sorgen“, erklärt Eltges. Eines der wichtigen Instrumente dafür ist der Länderfinanzausgleich. Die reichen Länder stützen die armen — im vergangenen Jahr mit mehr als 10 Milliarden Euro. Hinzu kommen bedeutende Mittel, welche die Bundesregierung den finanzschwächeren Bundesländern überweist. Mit Abstand größter Zahler ist Bayern als reichstes Bundesland, weitere Geberländer sind Baden-Württemberg und Hessen. Größter Profiteur ist dagegen seit längerem die Bundeshauptstadt Berlin, gefolgt von Nordrhein-Westfalen und Sachsen. Das Verschieben umfangreicher Haushaltsmittel ist in Deutschland nicht sonderlich populär. Es ist auch ein Grund dafür, warum viele Deutsche einer ähnlichen Lösung auf europäischer Ebene skeptisch gegenüber stehen. Doch in den Empfängerländern ist man froh über die Subvention. Man verweist etwa auf strukturelle Nachteile, wie den Niedergang der Kohle— und Stahlindustrie im Ruhrgebiet, gegen die man ohne die Hilfe der anderen schwer ankämpfen könnte.

„Darüber hinaus gibt es innerhalb der Bundesländer den kommunalen Finanzausgleich, mit dem die besser gestellten Städte und Gemeinden die schwächeren stützen“, berichtet Raumforscher Eltges. Der kommunale Finanzausgleich soll mithelfen, dass nicht ganze Landstriche aussterben.

Die deutsche Wirtschaftsstruktur kommt diesem Ziel „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ entgegen, denn sie ist das Gegenstück des dezentralen politischen Aufbaus. Ein Beispiel: Die Kleinstadt Heidenheim an der Brenz mit ihren 48.000 Einwohnern, eine gute Autostunde östlich von Stuttgart gelegen. Größter Arbeitgeber der Stadt ist das Maschinen- und Anlagebauunternehmen Voith, das seit 150 Jahren existiert. Die Firma begann als kleine Schlosser-Werkstatt und ist heute ein Weltmarktmarktführer mit 19.000 Beschäftigten, 4,3 Milliarden Umsatz und Vertretungen in mehr als 60 Ländern. Seiner Heimat blieb Voith als eines der größten Familienunternehmen Europas immer treu. Daher liegt die Arbeitslosenquote in Heidenheim heute nur bei 4,8 Prozent. „Die dezentrale Wirtschaftsstruktur Deutschlands ist ein Grund, warum das Stadt-Land-Gefälle weniger krass ausfällt als in anderen Ländern“, sagt Sebastian Klüsener vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock. Der weit verbreitete Mittelstand mit zahlreichen Weltmarktführern hat seine Firmensitze weitgehend im ländlichen oder kleinstädtischen Raum behalten. Das System der öffentlich-rechtlichen Sparkassen sowie der genossenschaftlich organisierten Volksbanken dient dabei als lokales Finanzrückgrat. Die Banken vor Ort müssen nicht immer erst in einer weit entfernten Hauptstadt nachfragen, ob sie einen Kredit vergeben dürfen, sondern können eigenständig entscheiden. Und ihre Kunden kennen sie gut, weil sie sich in unmittelbarer Nähe befinden.

Ob es in Deutschland derzeit eine Stadt-Land-Flucht oder eine Land-Stadt-Flucht gibt, lässt sich schwer sagen, denn die Menschen ziehen in beide Richtungen um. Dennoch können sich die ländlichen Räume alles andere als zurücklehnen. Sie müssen aufpassen, dass die ihre Zentren attraktiv bleiben und von Geschäftsschließungen verschont bleiben. „Die meisten Kommunen sind dafür sensibilisiert. Das Baurecht ermöglicht es, den Bau von Supermärkten auf der grünen Wiese zu verhindern. Denn niemand will, dass die Zentren veröden. Die meisten Menschen schätzen ein gewisses urbanes Flair, auch in den kleineren Orten. Das zu bieten gelingt aber nicht in jedem Fall“, berichtet der Raumforscher Eltges. Gerade in Ostdeutschland sind strukturschwache Gemeinden in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen und im südlichen Brandenburg weiterhin von Abwanderung bedroht. Dies verstärkt nach Auskunft von Soziologen auch die politische Radikalisierung und die Fremdenfeindlichkeit. Zudem prägt Deutschland heute ein Nord-Südgefälle mit einem starken Süden voller High-Tech-Unternehmen sowie Strukturprobleme in Westdeutschland, etwa im Ruhrgebiet und im Saarland.

Bemerkenswert ist dabei, dass die Geburtenrate in Ostdeutschland dennoch seit mehreren Jahren wieder den westdeutschen Vergleichswert übersteigt. „Zum einen ist im Osten die Kinderbetreuung traditionell sehr gut ausgebaut. Zum anderen sind Ostdeutsche weniger an perfekten Familienidealen orientiert, die in Westdeutschland oft zum Aufschub von Kinderwünschen führen“, sagt der Bevölkerungsforscher Klüsener.

Immerhin: In Gesamtdeutschland bewegt sich die Geburtenrate wieder nach oben: Zwischen 2009 und 2015 stieg sie von 1,36 und 1,5 Kindern je Frau. Die familienpolitischen Maßnahmen wie der Bau neuer Kindergärten und Kinder-Tagesstätten sowie finanzielle Anreize für die Eltern scheinen zu wirken – langsam allerdings, denn Deutschland liegt mit seiner Geburtenrate immer noch unter dem Durchschnitt in der Europäischen Union.

ENDE

http://www.constructif.fr/bibliotheque/2017-11/allemagne-le-federalisme-sauve-la-mise.html?item_id=3623&vo=1
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