Daniel SCHRAAD-TISCHLER

Chef du projet « Sustainable Governance Indicators » à la Fondation Bertelsmann (Allemagne).

Partage

Nachhaltiges Regieren im OECD- und EU-Vergleich: Wie zukunftsfähig ist Frankreich?

Die hochentwickelten Staaten der OECD und EU sehen sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit einer entscheidenden Frage konfrontiert: Wie lassen sich nachhaltige Politikergebnisse und eine größere Langfristorientierung in der Politik erzielen? Übergreifende Herausforderungen wie ökonomische Globalisierungsprozesse, soziale Ungleichheit, Ressourcenknappheit oder das Problem der gesellschaftlichen Alterung erfordern permanente Anpassungs- und Lernleistungen der Regierungen. Idealerweise sollten Regierungen langfristorientiert handeln; das heißt, sie sollten bemüht sein, ungerechte Lastenverschiebungen zuungunsten künftiger Generationen zu vermeiden. Es gilt, eine langfristige Trag- und Leistungsfähigkeit der ökonomischen, sozialen und ökologischen Systeme zu gewährleisten. Dies ist jedoch heute selten der Fall. Regierungen verhalten sich oftmals sehr kurzsichtig. Wachsende Schuldenberge, gesellschaftlich ungleich verteilte Teilhabechancen in Bereichen wie Beschäftigung, Bildung oder Gesundheit oder ein ineffizienter Umgang mit natürlichen Ressourcen haben erhebliche negative Folgewirkungen für gegenwärtige und künftige Generationen und gefährden so die Zukunftsfähigkeit der OECD- und EU-Staaten insgesamt.
Mit einer umfassenden internationalen Vergleichsstudie, den so genannten „Sustainable Governance Indicators“, kurz SGI (www.sgi-network.org), untersucht die Bertelsmann Stiftung seit 2009 regelmäßig die Zukunftsfähigkeit der hochentwickelten Industriestaaten. Wie groß ist der ökonomische, soziale und ökologische Reformbedarf in dem jeweiligen Land? Wie steht es um Rechtsstaat und Demokratie? Und wie reform- und leistungsfähig sind Regierung, Parlament und Zivilgesellschaft? Für jede dieser drei Fragen wird ein eigener Teilindex errechnet. Auf der Grundlage von rund 140 Einzelindikatoren und unter Mitwirkung von mehr als 100 Experten weltweit bewertet die Studie damit nicht nur die Entwicklungen der vergangenen Jahre, sondern sie vergleicht auch, wie gut die 41 untersuchten Länder für die Herausforderungen von morgen vorbereitet sind. Wie schneidet Frankreich beim internationalen Vergleich aller 41 OECD- und EU-Staaten in Sachen Zukunftsfähigkeit ab?

Frankreich im internationalen Vergleich – strukturelle Defizite in politischen Schlüsselfeldern

Betrachten wir zunächst die Ergebnisse im so genannten Policy Performance Index. Dieser Index bildet den Reformbedarf jedes Landes in zentralen Politikfeldern ab. Die grundlegende Fragestellung lautet hier: Wie erfolgreich sind die einzelnen OECD- und EU-Länder bei der Realisierung nachhaltiger Politikergebnisse? Dabei greift der Index wesentliche Gedanken auf, die in der internationalen Diskussion zur Messung von Nachhaltigkeit, gesellschaftlichem Fortschritt und Lebensqualität zentralen Stellenwert besitzen. In dem Index finden sich daher keineswegs nur rein ökonomische Maßzahlen, die Aufschluss über wirtschaftliches Wachstum und materiellen Wohlstand einer Gesellschaft geben; vielmehr bilden die in den Index einfließenden Daten den Erfolg der OECD- und EU-Staaten auch in zahlreichen weiteren politischen Handlungsfeldern ab. Dazu zählen so zentrale Bereiche wie Bildung, Beschäftigung, Gesundheit, Integration, Familien, Renten, Innovation oder Umwelt. Die hier skizzierten Ergebnisse beziehen sich auf den Untersuchungszeitraum Mai 2011 bis Mai 2013.
Frankreich kommt bei dem Vergleich des Reformbedarfs in wesentlichen ökonomischen, sozialen und ökologischen Politikfeldern derzeit noch auf einen Platz im vorderen Mittelfeld und liegt mit Rang 14 auf einem ganz ähnlichen Niveau wie Belgien, Tschechien oder Australien (alle Rang 15). Außer in der Familienpolitik, bei der Frankreich angesichts guter Kinderbetreuungsmöglichkeiten, Elternzeitregelungen und effektiver familienbezogener Leistungen gemeinsam mit den nordeuropäischen Staaten sogar klar an der Spitze des Vergleichs liegt, offenbaren sich in den meisten anderen zukunftsrelevanten Feldern allerdings zum Teil erhebliche Defizite.

Abbildung 1: Gesamtergebnisse im „Policy Performance Index“

So sind Frankreichs Ergebnisse im Bereich Arbeitsmarkt im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich. In diesem Teilbereich kommt das Land nicht über Rang 25 hinaus und liegt damit ungefähr gleichauf mit Lettland oder Polen. Die vergleichsweise hohe und über die letzten Jahre hinweg deutlich gestiegene Jugendarbeitslosigkeit von zuletzt rund 24 Prozent, eine eher geringe Beschäftigungsquote älterer Menschen (zuletzt 45,6 Prozent – zum Vergleich Schweden: 73,6 Prozent) und die mangelhafte Integration von Migranten in den Arbeitsmarkt haben zahlreiche strukturelle Ursachen. Dazu zählen nach dem Urteil der SGI-Länderexperten beispielweise die bestehenden Frühverrentungspraktiken oder das reformbedürftige Ausbildungssystem, das den Übergang junger Menschen in einen Job derzeit nur unzureichend unterstützt.
Letzteres ist auch einer der Gründe, warum Frankreich im Bereich Bildung ebenfalls nur unterdurchschnittlich abschneidet (Rang 27); besonders schwer wiegt hier, dass der soziale Hintergrund eines Kindes einen sehr hohen Einfluss auf den jeweiligen Bildungserfolg hat. Aus einer Perspektive sozialer Gerechtigkeit ist dies ein erhebliches Defizit, und auch ökonomisch wird durch eine mangelhafte Chancengerechtigkeit im Bildungsbereich letztlich viel Potential verspielt. Die Regierung sollte daher verstärkt darauf hinwirken, die Chancen von Kindern und Jugendlichen zu verbessern und möglichst früh in die Fähigkeiten des Einzelnen zu investieren. Frankreich ist mit dieser Problematik allerdings keineswegs allein in der OECD und EU. Auch Länder wie Deutschland oder Österreich haben ein strukturelles Problem, wenn es um gleiche Bildungschancen geht. Dagegen ist diese Problematik in Finnland oder Estland kaum vorhanden.
Eine insgesamt mangelnde Generationengerechtigkeit zeigt sich in Frankreich zudem mit Blick auf die Ergebnisse in den Feldern Haushalt (Platz 33) und Rentenpolitik (Platz 28). Während des letzten SGI-Erhebungszeitraums ist der Gesamtschuldenstand des Landes auf deutlich über 90 Prozent der Wirtschaftsleistung gestiegen, und das Rentensystem stellt sich im internationalen Vergleich ebenfalls als wenig nachhaltig dar. Nach dem Urteil der Ländergutachter ist das tatsächliche Renteneintrittsalter mit durchschnittlich 58 Jahren zu niedrig, weitere Reformen erscheinen dringend nötig.
Schwächen zeigen sich auch im Bereich Integration (Rang 22) und bei der Verhinderung von Diskriminierungen bestimmter sozialer Gruppen. Insbesondere Einwanderer aus den Magrheb-Staaten sind den Ergebnissen der Studie zufolge sozial benachteiligt. Die Ländergutachter kritisieren nicht zuletzt die Ghetto-Bildungen in den Vorstädten und die hohe Arbeitslosigkeit unter den Einwanderern der zweiten und dritten Generation. Die häufige Perspektivlosigkeit dieser Menschen birgt erheblichen sozialen Sprengstoff. Diese „De-facto Diskriminierung“ ist auch einer von mehreren Gründen für das insgesamt nur unterdurchschnittliche Abschneiden Frankreichs in Sachen Demokratiequalität (Rang 28), dem zweiten Teilindex der Sustainable Governance Indicators.

Abbildung 2: Gesamtergebnisse im „Quality of Democracy Index“

Der Aspekt der Demokratiequalität ist unter dem Gesichtspunkt langfristiger Systemstabilität und politischer Leistungsfähigkeit von zentraler Bedeutung. Demokratie und „good governance“ hängen unmittelbar mit dem Ziel einer nachhaltigen Entwicklung zusammen. In der SGI-Untersuchung wird die Qualität wesentlicher rechtsstaatlich-demokratischer Standards anhand 15 detaillierter Einzelfragen gemessen, die die Kerndimensionen des demokratietheoretischen Diskurses abdecken. Dazu zählen Bereiche wie die Qualität des Wahlprozesses, die Qualität des Zugangs der Öffentlichkeit zu Informationen, die Verwirklichung von Bürgerrechten und politischen Freiheiten sowie die Beurteilung grundlegender rechtsstaatlicher Prinzipien, wie sie etwa in der Frage unabhängiger richterlicher Überprüfbarkeit von Gesetzen, der Verwirklichung allgemeiner Rechtssicherheit sowie der Verhinderung von Korruption zum Ausdruck kommen. Am besten schneidet Frankreich bei der Frage des Wahlprozesses sowie dem effektiven Schutz der politischen Freiheitsrechte und der Bürgerrechte ab. Hier zeigen sich im internationalen Vergleich kaum Schwachstellen.
Neben dem oben genannten Problem, dass trotz gesetzlicher Antidiskriminierungsvorschriften durchaus De-Facto-Diskriminierungen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen zu beobachten sind, sehen die Ländergutachter im Falle Frankreichs jedoch weitere Probleme insbesondere in den Feldern Korruptionsvermeidung und Rechtssicherheit. Die Regelungen zur Vermeidung von Korruption sowie zur Kontrolle der Parteienfinanzierung sind in Folge diverser Skandale in den vergangenen Jahren zwar immer wieder erneuert und erweitert worden (zuletzt 2013), doch existieren nach wir vor Regelungslücken und Schlupflöcher, die korruptionsähnliche Praktiken und Interessenkonflikte ermöglichen. Zudem führen häufige Rechtsänderungen beziehungsweise die sich in der bürokratischen Praxis oft verändernden Interpretationen existierender rechtlicher Regelungen nach dem Urteil der Ländergutachter zu gewissen Problemen im Bereich der Rechtssicherheit. Nicht ohne Grund haben gerade Vertreter der Wirtschaft diese rechtliche Instabilität immer wieder kritisiert und eine verbesserte langfristige Planungssicherheit angemahnt.
Insgesamt zeigt der Ländervergleich, dass Frankreich in vielen politischen Bereichen Strukturreformen angehen sollte, um seine Zukunftsfähigkeit zu sichern. Problematisch erscheint hierbei allerdings, dass die Studie dem politischen System nur eine relativ geringe Reformfähigkeit attestiert.

Begrenzte Reformfähigkeit – Frankreich hat einen steinigen Weg vor sich

In einer sich schnell wandelnden Umwelt und angesichts immer komplexer werdender Problemkonstellationen kommt es für Regierungen mehr denn je darauf an, sowohl kurzfristig entschlossen reagieren zu können als auch die langfristigen Folgewirkungen politischen Handelns richtig abzuschätzen. Der SGI Governance Index misst, wie gut in den jeweiligen OECD — und EU Staaten die strategische Steuerungs — und Problemlösungsfähigkeit mit Blick auf das Zusammenspiel von Regierungen und gesellschaftlichen Akteuren ausgeprägt ist. Frankreich kommt hier derzeit über einen Rang im unteren Mittelfeld nicht hinaus (Platz 27). Was sind die Hauptgründe für dieses Ergebnis?

Abbildung 3: Gesamtergebnisse im „Governance Index“

Zwar ist das französische politische System in seinen verfassungsrechtlichen Institutionen sehr stabil, doch mit Blick auf die Frage der Innovationskraft und Problemlösungsfähigkeit der politischen Institutionen vergeben die Ländergutachter eher schlechtere Noten. Die Interaktion zwischen Regierung und gesellschaftlichen Akteuren ist demnach zu oft von Blockade geprägt. Entsprechend sind häufig nur inkrementelle Reformschritte möglich, die den aktuellen Herausforderungen — etwa was die Reform des Arbeitsmarktes oder der derzeit nicht nachhaltigen sozialen Sicherungssysteme angeht — nicht gerecht werden. Schwachpunkte sehen die Wissenschaftler insbesondere bei den strategischen Planungskapazitäten der Regierung, der Anwendung evidenzbasierter Instrumente zur langfristorientierten Politikgestaltung sowie bei der Frage einer frühzeitigen Konsultation gesellschaftlicher Akteure bei politischen Planungsprozessen und Gesetzesvorhaben.
Trotz der französischen Tradition einer starken zentralisierten Koordinierung und Kontrolle der einzelnen Ministerien durch den Präsidenten und den Premierminister ist eine verbindliche strategische Planung keineswegs die Regel. Gesetzesfolgenabschätzungen (Regulatory Impact Assessments) werden zwar systematisch durchgeführt; nach dem Urteil der Ländergutachter fehlt es diesen Instrumenten jedoch häufig an einem klaren Fokus auf Nachhaltigkeit und einer echten kritischen Haltung gegenüber den zu prüfenden Gesetzesvorhaben. Eine besondere Herausforderung besteht mit Blick auf die Frage, wie künftig eine verbesserte Konsultation gesellschaftlicher Gruppen durch die Regierung sowie ein konstruktiver und effektiver sozialer Dialog ermöglicht werden kann. Die SGI-Ländergutachter erkennen im Rückblick auf die letzten Jahre zwar durchaus gewisse Veränderungen in der bislang meist vorherrschenden Top-Down-Haltung der Regierung gegenüber der Zivilgesellschaft und ihren vielfältigen Akteuren. So wird die Konsultation von Interessengruppen durch die Regierung heute systematischer durchgeführt als früher, und auch die Regeln für Verhandlungen zwischen den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden sind mit dem Ziel einer verbesserten Sozialpartnerschaft modernisiert worden.
Doch das grundsätzliche Problem eines traditionellen gegenseitigen Misstrauens zwischen den oftmals fragmentierten Akteuren ist geblieben. Dieses Misstrauen führt nach wie vor zu Blockaden und spiegelt sich in einer zu selten auf Kompromissfindung ausgerichteten Grundhaltung wider. Wie wichtig jedoch gerade eine funktionierende Sozialpartnerschaft zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern sowie eine enge und frühzeitige Einbindung breiter gesellschaftlicher Kräfte durch die Regierung sein kann, hat sich zuletzt in Deutschland sowohl bei der Reform des Arbeitsmarkts als auch bei der Umsetzung der verschiedenen Maßnahmen zur Bewältigung der Krise gezeigt (etwa in Gestalt des so genannten Kurzarbeitergelds und der kurzfristig beschlossenen Konjunkturpakete). Ebenso haben die konsensorientierten politischen Systeme Nordeuropas, die in der aktuellen SGI-Untersuchung die Spitzenpositionen sowohl im Policy Performance Index als auch im Governance Index belegen, in dieser Hinsicht ihre Leistungsfähigkeit einmal mehr unter Beweis gestellt. Demgegenüber wird es für Frankreich angesichts seiner strukturell eher geringen Reformfähigkeit und der derzeit erheblichen politischen Polarisierung nicht leicht sein, den Abstand zu den Spitzenländern des OECD-/EU-Vergleichs zu verkleinern — zumindest nicht kurzfristig.

http://www.constructif.fr/bibliotheque/2014-11/des-faiblesses-structurelles.html?item_id=3437&vo=1
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